Kategorie:  Symphonie / Orchester

Dauer: 9 Minuten

Notenausgabe: Schott Music GmbH , Leihmaterial , 2005

Besetzung: Blechbläser-Solisten:
5 Trompeten (B)
2 Waldhörner (F)
3 Tenorposaunen
Bassposaune
Basstuba

Symphonieorchester:
Piccoloflöte
Flöte 1/2
Oboe 1/2
Klarinette (B) 1/2
Fagott 1/2
Contrafagott
Waldhorn (F) 1-4
Tenorposaune 1/2
Bassposaune
Basstuba

4 Schlagzeuger:
Perc.1: Pauke
Perc.2: große Trommel, Triangel, Hängebecken, Claves, Tempelblocks, Schrott-Metall
Perc.3: kleine Trommel, Glockenspiel, Hängebecken, Schrott-Metall
Perc.4: Flexaton, Xylophon, 3 Tomtoms, Hängebecken (groß), Schrott-Metall
(?Schrott-Metall? sollen Stangen, Rohre, Bleche, Eimer, Tonnen, Wannen, Leitern sein,
in Absprache mit dem Dirigenten ist phantasievolle Klanggestaltung gefragt)


große Streicherbesetzung
(16-14-12-10-8)

Soloinstrumente: Horn, Posaune, Trompete (B), Tuba

Vorwort: Anmerkungen zur Interpretation:
Das Werk soll ziemlich konsequent im einheitlichen Tempo "Viertel = 180" durchgespielt werden, - dann stimmt schon ein Großteil der Interpretation. Jazzartige Intonation darf es allenfalls bei den solistischen Blechbläsern geben (diese verkörpern sozusagen mit den trivialen, unterhaltsamen, von den Schrottplätzen der Musikgeschichte entliehenen Motiven den "Sperrmüll"-Gedanken Jean Tinguelys, während das Symphonieorchester sich eher seriös oder avantgardistisch gibt. An einer Stelle wird eine "Basler Guggemusik" mit der Baselhymne "Z'basel an mim Rhi" intoniert (Hommage an die Fasnachtsvorlieben von Jean Tinguely): "Guggemusik" ist das klamaukig-fröhliche Intonieren von beliebten Melodien bei den alemannischen Fasnachtsumzügen, wo nicht musikalische Perfektion sondern heftiges Mitspielen gefragt ist (auch wenn man das Instrument gar nicht oder nur saisonweise beherrscht): Fehlintonationen und falsche Tonarten sind keine Problem-Hauptsache der rhythmische Impuls stimmt!
Besondere Sorgfalt und experimentelles Suchen ist dem Finden von "Knarz- und Knarrgeräuschen" zu geben, die manchmal in der Partitur bei den Streichern vorgeschrieben sind: lautes Aufdrücken des Bogens auf die Saiten (wie ein Türenknarren) erzeugt einen harten Geräuschimpuls, der dann starr und mechanisch (wie eben eine Maschine) weiterzuführen ist. Gleiche Sorgfalt wird von den Schlagzeugern erhofft, bei denen "Alltagsinstrumente" gelegentlich vorgeschrieben sind, - Deckel, Eimer, Bleche, Stangen und maschinenmäßiges Schrottplatz-Flair herzustellen. Hier sind der Phantasie natürlich keine Grenzen gesetzt. In Art der "Stomp"-Percussion kann auf allem musiziert werden, was erfrischend unkonventionell und grell klingt, - optische Showeffekte sind durchaus erwünscht, so dass den Schlagzeugern auch eine Art Solistenfunktion zukommt.

Widmung: Dem Ensemble BACH, BLECH & BLUES gewidmet (...in Bewunderung der konsequent doppelbödigen und genreübergreifenden musikalischen Arbeit)

Zur Ästhetik von Jean Tinguely:
Trotz allem kosmopolitischen Gestus (er war ja viel in Paris und durch die Heirat mit Niki de Saint Phalle sehr mit den USA verbunden) war Tinguely mit der Stadt Basel liiert, wo vor einigen Jahren (an der Rheinpromenade gegenüber dem Basler Münster) das Tinguely-Museum architektonisch bemerkenswert gebaut wurde. Da ich selbst in Weil am Rhein geboren bin (etwa 300 Meter von der schweizerischen und 300 Meter von der französischen Grenze entfernt) und kulturell sozusagen in Basel aufwuchs, bin ich schon in der Jugend von seiner polarisierenden Ästhetik - zwischen Schrottplatz und Kunst, zwischen Trivialität und Artifizialität. aber immer provokativ und immer in Bewegung ("Stillstand gibt es nicht!", 1959) - sehr beeinflusst worden.
Wer je in Basel einmal Zeit hat, der mag sich dort im Museum die monströsen seltsamen und völlig sinnlosen Maschinen anschauen und anhören: aus Schrottmaterialien zusammengebastelt, teils furchterregend groß und laut, teils zum Lachen lustig oder witzig, grotesk und absurd und immer voller Überraschungen: wenn's irgendwo knarrt, weiß man nicht, wo es als nächstes rattert! Manche kennen Tinguely Maschinen auch aus anderen Museen und oder aus internationalen Parks und öffentlichen Plätzen wie etwa dem "Tarot Garden" von Niki de Saint-Phalle in der Toscana oder dem Picasso-Brunnen hinter dem Centre Pompidou in Paris.

Um in die Ästhetik Tinguely einzuführen, gebe ich in loser Folge einige Materialien zum Lesen und Nachdenken und hoffe, dass dann das Einüben meiner "sinnlosen" Komposition (die ein recht virtuoses und experimentierfreudiges Orchester braucht) etwas "sinnhafter" wird. Wer selbst Lust zu recherchieren hat, dem sei im Internet www.tinguely.ch empfohlen oder kann unter www.google.de einmal das Stichwort "Tinguely Maschine" eingeben.

aus: Peter Gronau
"Die Veränderlichkeit gibt aller Starre das Leben zurück"
Ein ganz besonders herauszuhebender Vertreter dieser befreienden Kunst von geradezu symbolischer Direktheit ist der Schweizer Kunstingenieur und Kinetik-Skulpteur Jean Tinguely, der mit seinen Maschinenimitationen den Intellektwahn der nützlich produzierenden Maschine in die Geistesfreiheit fröhlicher, souverän humaner Absurdität überführt. Die Kunst, soviel ist klar, wenn sie befreien und zur Besinnung führen soll, bedarf der lehrreichen Absurdität. Der Geist, die Kunst, soweit sie den Geist verwaltet, stellt sich quer. Sie bedient sich unter Umständen, so sagt es Tinguely jedenfalls, des "spielerischen Witzes", sie "scherzt". Der Scherz "spielt mit - allen Ernstes".
Tinguelys Geschichte ist die eines Rebellen, der jung und kompromisslos als Kommunist die Verhältnisse einer verlogenen und ungerechten Gesellschaft umwälzen, als Künstler dann ein Karnevalist sein wollte (zeitlebens war sein größtes Vergnügen die Kreation von Masken und Kostümen für die Basler Fasnacht), um zu verblüffen und aufzuschrecken, im Lachen Erfahrungsblitze und Selbsterkenntnisschocks aus der bürgerlich uniformierten und versteiften Gesellschaft herauszusprengen (an der Seite Niki de Saint Phalles sprengte er gerne, liebte er Aktionen imitierter explodierender Gewalt). Tinguely vergaß irgendwann den Revolutionär, blieb aber der Rebell, der von allzu anarchistischen Provokationen gereiften Abstand nahm, um sie durch die mildere, aber tiefer eindringende Parodie zu ersetzen, das hieß dann auch: durch die Unwiderstehlichkeit und Verwandlungsmacht der Poesie.


TINGUELY-BAUSTEINE

Tinguely: "Ich versuche den Technikrausch in unserer fröhlichen Industriewelt zu konzentrieren. Ich will dies durch ein etwas verzweifeltes Mittel zum Ausdruck bringen, eine Maschine - wie Sisyphos, festgefahren, garantiert sinnlos."

Tinguely: "Kunst ist Aufruhr. Ich organisiere dieses Auflehnen. Ich verlasse den Thron der Kunst, schaffe Kunstwerke, die dem System ausdrücklich entwischen wollen"

Tinguely über seine Sperrmüll-Materialien: "Ich lasse sie lediglich Streiche und Dummheiten machen, Possen reissen?das muß man gut machen und sehr ernsthaft!"

Tinguely: "...dass ich häufig mit Ramsch arbeite, ich setzte dabei die Geschwindigkeiten, die Gefühle, die Psychologie zusammen!"


beeindruckend - fröhlich - verrückt - zirkusartig!


Skurrile Maschinen, - ohne praktische Funktion


Aspekt der grundlosen Handlung!

Tinguely Maschinen: Sie spielen. Sie sind in ihren Bewegungen nicht berechenbar.
Sie malen. Sie zerstören sich selbst. Es fasziniert ihre Ähnlichkeit mit uns Menschen
(Käte Meyer-Drave)

Diese zwecklosen Maschinen, pendelnd zwischen spielerischem Witz und bedrohlicher Aggressivität, spiegeln einerseits Tinguelys Technikbegeisterung wieder, andererseits ironisieren sie die moderne Industriewelt wie auch den Kunstbetrieb durch ihre absurde Lächerlichkeit und Sinnlosigkeit.


Kunst passiert, wenn die Maschine läuft. Tinguely Werke sprühen vor Esprit, Lebenslust, Ironie und Poesie. Auf einer hintergründigen Ebene klingt aber auch der Sinn für Tragikkomik sowie Hinter- und Abgründiges an.


Zerstörung, die Platz macht für Neuanfänge des Denkens und kreative Innovation. Sie ist, so weiß Tinguely, verstörend, verblüffend, beunruhigend, aber nicht eigentlich destruktiv.


So ist die Maschine im Sinne La Mettrie's (Philosoph und Arzt des 18. Jh.) nicht die Lösung der Frage nach der menschlichen Existenz, sondern deren Rätsel selbst. Die Maschine reserviert den Platz eines Mangels, der darin besteht, dass der Mensch letztlich niemals erkunden wird, was und wie er ist. "Wer weiß übrigens" - so fragt er - "ob der Sinn der Existenz des Menschen nicht in seiner Existenz selbst liegt?"

Anmerkungen: 


Meine Komposition "The Tinguely Machine" ist dem Ensemble BACH, BLECH & BLUES gewidmet, die in ihrer zwölfköpfigen Besetzung sozusagen den Solistenpart eines Konzertstücks einnehmen. Die Doppelbödigkeit der musikalischen Arbeit von BACH, BLECH & BLUES - zwischen den Welten von Jazz, Avantgarde und Klassik jonglierend und mit seinen ambivalenten Programmen die konservativen Konzertgestaltungen aufsprengend - hat durchaus etwas vom Geiste Jean Tinguely an sich. Einige Mitglieder von BACH, BLECH & BLUES haben schon früher Stücke von mir (ur)aufgeführt, die sich thematisch ebenfalls an große Leitbilder der Ästhetik des XX. Jahrhunderts hielten wie Charles Chaplin oder Karl Valentin (die Nähe zu Jean Tinguely ist unverkennbar), - etwa die Stücke "Charles Chaplin Fresken" für brass quintett, das "Karl Valentin-Epitaph" für Saxophon, 6 Posaunen, 2 Trompeten, Basstuba und spezial effects oder "Die Frau, der Teddybär und das Rasiermesser" Kriminalstück für Posaune solo als musikalisches Theater inszenierbar.

Uraufführung:  09.05.2006, Postbahnhof Berlin zum 150jährigen Jubiläum des Deutschen Musikverlegerverbandes in Anwesenheit von Bundeskanzler Gerhard Schröder

Uraufführung Interpreten: Bach, Blech&Blues und das RIAS Jugendsinfonieorchester Ltg.: Markus Poschner