Kategorie:  Recordings , Filmmusik

DIE FLUCHT (Regie: Kai Wessel, eine Teamworx-Produktion) ist ein Event-Zweiteiler des Fernsehens, der in der Tat ein Meilenstein in der Filmgeschichte wurde. Großartig besetzt und inszeniert. Ein großes Dokument europäischer Kriegsgeschichte. Der aufwendige Filmscore, komponiert und dirigiert von Enjott Schneider, entstand in nur wenigen Wochen und war - aufs Höchste von den faszinierenden Bildern und der erschütternden Geschichte inspiriert - dennoch eine ganz besondere Filmmusik geworden. Sie existiert auch als Symphonische Suite mit Orchester.
Die NMZ (Neue Zeitschrift für Musik) bezeichnete den soundtrack als "beste deutsche Filmmusik des Jahres" und Enjott Schneider erhielt dafür im August 2007 auch den Deutschen Fernsehpreis für Beste Filmmusik.
- In den Fotos unten (zum Vergrößern Anklicken) wird ein detaillierter Arbeitsbericht gegeben.

Vorwort: Enjott Schneider: DIE FLUCHT - eine Filmmusik entsteht

Als ersatzweise eingesprungener Komponist war ich im November 2006 sehr spät mit diesem Film konfrontiert, den ich - wie heute üblich - mit "temp tracks" unterlegt auf zwei DVDs kennenlernte: Die vorläufigen Musikspuren (temporary tracks) zeigten mir mit den verwendeten Kompositionen von Ennio Morricone, Hans Zimmer oder James-Newton Howard, dass hier eine große Geste und eine dominant miterzählende Musik verlangt werden. In der "spotting session" - jenem wichtigen Treffen, bei dem Stilistik, Einsätze und Funktionen der Filmmusik ausführlich diskutiert und festgelegt werden - wurde dann von meinen Partnern ausdrücklich eine große epische Musik, wie etwa in Morricone "Es war einmal in Amerika" (so Gabriela Sperl, die Drehbuchautorin und Koproduzentin) gewünscht. Nach Regisseur Kai Wessel sollte die Musik ein überdimensioniertes Ausdrucksspektrum aufweisen und möglichst schon im Hauptthema die Liebe zur Heimat Ostpreussen, die Schönheit einer Landschaft, die Größe einer ungewöhnlichen Frauenfigur, aber auch schon das Wissen um den kommenden Schmerz und alles Leid beinhalten.
Glücklicherweise hatte ich mit Teamworx-Film und speziell mit Gabriela Sperl schon einige Produktionen absolviert ("Stauffenberg", "Nicht alle waren Mörder"), so dass eine gewisse Verständigung garantiert war. Um dennoch Sicherheit zu haben, entwickelte ich vor der eigentlichen Vertonung ein Themengerüst, das dramaturgisch alle Figuren und deren Relationen abdeckte. Nach mehreren Entwürfen (mit Sampling-Orchester simuliert) wurde mir dann ein stimmiges Themengeflecht abgnommen:
Tragend war das Lena-Thema in e-moll (mit der signifikanten kleinen Sexte und einem 16taktigen harmonischen Bogen) in Titel- und Abspannmusik. Davon gab es eine vokale Version als "innere Stimme" Lena. Davon abgeleitet (im ¾-Takt und nach c-moll versetzt) wurde das Treck-Thema, in dem die Hauptmelodie endlos über stampfenden Bassfiguren kreist. Daneben gab es noch Lenas "persönliches Thema" in c-moll (zu hören am Ende von Titel- und Abspannmusik), das mehrfach variiert wird (z.B. als tiefer Streicherchoral beim Hinausführen der Gefangenen zur Exekution, z.B. in einer C-Dur Variante bei der Freundschaft mit Heinrich. Ein Thema in G-Dur (der Paralleltonart zum Hauptthema in e-moll) war - auf Wunsch von Gabriela Sperl - sehr positiv gehalten, um der eher düstere Stimming des Filmes entgegenzuwirken: es ist das Hoffnungsthema, die Liebe zu Ostpreussen, mit dem der Film (vor dem Einsetzen der Titelmusik) sich leise beschließt.
Meistens drücken auch die weiteren Themen vor allem die Empfindungswelt von Lena aus. Das Vater-Thema erzählt mit seinem ambivalenten Changieren von d-moll und fis-moll von Lenas Ambivalenz ihrer Beziehung zum Vater. Das Thema ihrer Tochter Vicky (ursprünglich lang und eigenständig) taucht nur in kurzen Fragmenten auf, weil es zu sehr von Lenas Themen überschattet wird. Einen besonderen Stellenwert hat Lenas Liebe zum französischen Kriegsgefangenen Francois: für diese geheimnisvollen und alle Anstandsregeln des ostpreussischen Adels sprengenden Gefühle wählte ich schon früh die magisch-dunkle Klangfarbe des Duduks (einem armenischen Blasinstrument, das seit "Gladiator" bekannter geworden ist). Von Lenas Gefühlswelt losgelöst ist das Thema von Ferdinand, ihres sensiblen Freundes, der im Zwist mit seinem Vater und dem konventionellen Landadel lebt bis erschließlich an den Scheußlichkeiten der Zeit zugrunde geht: ein chromatisches, basslastiges Thema mit vielen Dissonanzen.
Nachdem die Themen fixiert waren, erfolgte die Komposition in Form von Sampling-Layouts sehr zügig. Innerhalb von drei Wochen waren 180 Minuten Film
(mit einem hohen Musikanteil von 150 Minuten) vertont und wurden kurz vor Weihnachten 2006 sowohl dem Regisseur Kai Wessel wie den Produzenten Nico Hofmann, Joachim Kosack und Gabriela Sperl in zwei diskussionreichen Sitzungen vorgeführt. Solosopran (Gabriele Steck), Duduk (Sandro Friedrich) und der teils hochvirtuose Part der Solovioline (Manuel Druminski) waren eigens für die Layoutabnahme schon echt eingespielt, womit die Musik eine grössere Überzeugungskraft erhielt. Danach gab es grünes Licht für die Produktion: vom 20.12.2006 bis zum 4.1.2007 wurden von Hand (was meine persönliche Vorliebe ist, da es an Schnelligkeit den Computer übertrifft) über 1000 Notenblätter Orchesterpartituren und Stimmen geschrieben, wovon ein Drittel dann von Dorothea Hofmann (der Setzerin) in perfekten Notensatz übertragen wurde: das waren über Weihnachten und Neujahr hinweg permanente 18-stündige Arbeitstage, sonst wäre der avisierte Orchestertermin am 6./7. Januar 2007 nicht realisierbar gewesen. Dieser wiederum war zwingend, weil in Hamburg die Filmmischungen schon auf den 11. Januar terminiert waren.
Nachdem die Orchestermappen einsortiert waren (4.500 Notenblätter für 80 Musiker) und die Arbeitsspuren mit dem Click (zum exakten Einhalten des Timings) eingespielt und -zigfach kontrolliert waren, liefen die Musikaufnahmen sehr professionell und komplikationslos ab: Mein Contractor und Konzertmeister Manfred Hufnagel, mit dem ich seit ?Herbstmilch? 1988 zusammenarbeite, hatte mir (vornehmlich aus den Reihen der Münchner Philharmoniker) wieder mein "Philharmonisches Filmorchester München" zusammengestellt. Tonmeister Klaus Strazicky, mit dem ich seit 1995 zusammenarbeite (er nahm z.B. meine Soundtracks zu "Mädchen Rosemarie" oder "Schlafes Bruder" auf) hatte die Bavaria Musikstudios mit 5.1 Surround-Mikrofonierung, das Protool-Setup mit fast 200 Orchesterspuren und das Monitoring mit 80 Kopfhörern vorbereitet, so dass alles - nach komplexen Spur- und Timecodeplänen geregelt - losgehen konnte. Für Musiker und auch für mich als Dirigenten ist solch eine Aufnahme härteste Arbeit: da muss in zwei 10stündigen Arbeitstagen eine nicht unkomplizierte Musik vom Blatt gespielt, fehlerlos und doch mit einem Optimum an Frische und Expression auf Tonträger verewigt werden. Dass bedeutet immense Konzentration. Mit Neid blickt man in solchen Momenten auf die Kollegen der amerikanischen Filmmusikszene, die für eine Einspielung von 150 Filmmusikminuten das Sechsfache an Geld und Zeit zur Verfügung haben.
Dennoch kam bei der anschließenden Musikmischung, die dann fünfkanalig am großen Digidesign Icon-Pult (mit allen technischen Rafinessen) in meinem Münchner Tonstudio stattfand, schnell euphorische Stimmung auf: Es hat sich gelohnt! Eine grosse Filmmusik ist entstanden, die alle Beteiligten motiviert, gefordert und schließlich beglückt hat.

Tonträger:  2007

Tonträger Interpreten: Philharmonisches Filmorchester München, Ltg: Enjott Schneider mit Sandro Friedrich-Northrop (Duduk), Manuel Druminski (Solovioline), Gabriele Steck (Sopran), Enjott Schneider (Klavier)

Aufgenommen 6./7.1. 2007 in den Bavaria Musikstudios, Tonmeister: Klaus Strazicky
Orchesterbesetzung:

Violine: Manfred Hufnagel (Konzertmeister), Norbert Bernklau, Thais Coelho, Jonel Craciunescu, Nenad Dalore, Karel Eberle, Alina Florescu, Ingrid Friedrich, Michael Friedrich, Ulrich Hahn, Bernd Herber, Andrea Karpinski, Ralf Klepper, Alexander Kostin, Karol Liman, Evian Mihvea, Alexander Möck, Ursula Riehm, Peter Riehm, Hermina Szabó, Josef Thoma, Yusi Chen, Zhou Qi

Viola: Wolfgang Berg, Hans Ulrich Breuer, Agata Fiolek, Eva Maria Klose, Reto Kuppel, Julia Mai, Norbert Merkl, Andreas Muck, Burkhard Sigl, Johannes Zahlten

Violoncello: Peter Besig, Sven Faulian, Song Jae-Won, Thomas Ruge, Manuel von der Nahmer, Emil Radutin, Wulf Schaeffer, Markus Wagner, Clemens Weigel, Veit Wenk-Wulf, Gerd Zank

Kontrabass: Marc Dorin, Herbert Duft, Holger Herrmann, Ingo Nawra, Alexander Preuß, Piotr Stefaniak, Jesper Ulfenstedt, Johann Wagenbauer

Flöte: Burkhard Jäckle, Alexandra Murr
Bassflöte: Giuseppe Solera
Oboe: Ulrich Becker, Jürgen Evers
Englischhorn: Yeou-Hee Kwak
Klarinette: Harald Harrer, Carolin Heilig
Bassklarinette: Stefan Schneider
Fagott: Johannes Overbeck
Kontrafagott: Wolfgang Piesk
Horn: Franz Kanelzky, Maximilian Hochwimmer, Marc Ostertag, Karl Reitmayer,
Trompete: Josef Bierlmeier, Frank Blödhorn
Posaune: Markus Blecher, Hans Jörg Profanter, Uwe Schrodi
Schlagzeug: Stefan Blum, Daniel Wehr
Harfe: Uta Jungwirth
Klavier: Enjott Schneider