Kategorie:  Symphonie / Orchester , Orgel / Sacred Music , Chor / Vokal

Sätze: Satz 1: PROLOG
"Es war ein Mann im Lande Uz,
der hieß Hiob" (Kap.1,1)

Satz 2: ZERSTÜCKUNG
"Ich lebte sorglos, da zerzerrt er mich,
packt mich im Nacken und zerstücket mich" (Kap.16,12)

Satz 3: STERNVERDUNKLUNG (Nelly Sachs)
"Wo du stehst, ist der Nabel der Schmerzen.
Deine Augen sind tief in den Schädel gesunken
wie Höhlentauben in der Nacht
die der Jäger blind herausholt.
Deine Stimme ist stumm geworden,
denn sie hat zuviel ?Warum? gefragt."

Satz 4: LANDSCHAFT AUS SCHREIEN (Nelly Sachs)
"O du blutendes Auge / in der zerfetzten Sonnenfinsternis
zum Gott-Trocknen aufgehängt / im Weltall"

Satz 5: EPILOG: KEZIA (DIE ZIMTBLÜTE)
"Am Ende von Hiobs dunkler Nacht, die er ohne Trost
durchschritten hat,
offenbart sich ihm die Schönheit der Welt" (Simone Weil)

Dauer:

Satz 1: 4:50 Satz 2: 5:30 Satz 3: 8:30
Satz 4: 4:30 Satz 5: 6:00

Dauer: 29 Minuten

Notenausgabe: Schott Music , 2007

Besetzung: Große Orgel (mind. 3 Manuale)

3 Flöten (3. auch Piccolo) 2 Oboen, Englischhorn.
2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, Kontrafagott
4 Hörner (F), 3 Trompeten (B), 3 Posaunen (T-T-B), Tuba
Pauke
Schlagzeug 1: Tamtam, kleine Trommel, Gl.spiel, 3 Woodblocks, Bongo
Triangel, Peitsche, Becken hängend (hoch-mittel)
Schlagzeug 2: große Trommel, 3 Tempelblocks, Tamtam (evtl. mit 1.),
grosses Becken hängend, Vibraphon

Grosse Streicherbesetzung (16-14-12-10-8)

Soloinstrumente: Orgel

Vorwort: Enjott Schneider
HIOB - Anmerkungen zu einem Mythos

So schütternd das biblische Buch Hiob in seiner existentiellen Dimension ist, so wenig wird es rezipiert und verstanden: Von Gott und Satan geprüft verliert er als wohlhabender Mensch alles Gut, alle Nachkommen, wird von schlimmsten Krankheiten und Geschwüren gepeinigt, lebt in Sack und Asche am Rande der Gesellschaft und verliert zunächst seinen Glauben nicht: "Der Herr hats gegeben. Der Herr hats genommen. Der Name des Herrn sei gelobt." Erst im vollen Bewußtsein, von seinen Freunden (die ihm eigenes Verschulden an seinem Unglück vorwerfen) und von Gott verlassen zu sein, beginnt er zu hadern und zu klagen. Gott wird ihm zum willkürlichen Gewaltherrscher, der grundlos schafft und vertilgt: "Ich lebte sorglos, da zerzerret er mich, packt mich im Nacken, und zerstücket mich" (Kap. 16,12). Als Hiob nur noch vor Schmerzen schreit und sich in tiefster Depression windet, spricht endlich Gott aus einer Gewitterwolke ("aber die Stimme kam aus der Mitte des Inneren") zu ihm. Gott erklärt Hiob nicht den Grund seines unermesslichen Leids, wohl aber die Herrlichkeit seiner Schöpfung und seiner Allmacht. Da bemerkt Hiob - wie es der Theologe Karl Rahner formulierte: "Die Unbegreiflichkeit des Leids ist ein Stück der Unbegreiflichkeit Gottes". Indem Hiob daraufhin seinen Schmerz sowie seine Geschöpflichkeit in Schmutz und Staub annimmt, verzeiht ihm Gott und segnet ihn erneut mit Wohlstand, Gesundheit und Kindern, darunter die drei Töchter, die zu den schönsten Frauen aller Lande wurden, - Jemima, Kezia und Keren Happuch.
Von höchster Bedeutung ist der Umstand, dass Gott die Freunde Hiobs Elifias, Bildad, Zofar und Elihu strafen wollte, weil sie mit der Zuweisung einer persönlichen Schuld für das Unglück falsch geredet hatten. Hier tritt die Quintessenz des rätselhaften Buches Hiobs zutage: Leid ist nicht durch persönliche Schuld verursacht; der altorientalische Tun-Ergehen-Zusammenhang, nach welchem Gottgefälligkeit zu Glück, Schuldhaftigkeit zu Unglück führen sollte, entbehrt jeder Schlüssigkeit.
Zwei überragende jüdische Frauenfiguren des XX. Jahrhunderts lieferten die überzeugendsten Hiob-Interpretationen, die mir dann zur tiefsten Inspiration für das Orgelkonzert HIOB geworden sind: die französische Philosophin Simone Weil (1909-1943) und die deutsche Lyrikerin Nelly Sachs (1891-1970).
Nach Simone Weil sind Leid und Schönheit primärer Lebensbezug und eine besondere Gelegenheit der Gotteserfahrung: der"reine Schrei des menschlichen Elends" führt zur Erkenntnis der "nackten Wirklichkeit", die nicht mehr hinterfragbar ist. Zentral ist für sie das hebräische "hinnan", das "umsonst", "ohne Grund", "ohne Sinn". An dieser Sinnlosigkeit angekommen durfte Hiob Gott einen Frevler nennen, denn "wenn nicht er, wer dann"? hätte helfen können; doch war dies für Simone Weil keine Gotteslästerung, "sondern echter, dem Schmerz entrissener Aufschrei". Die Erlösung geschieht durch "Annehmen" als Erkennen dessen, was ist. "Wer fähig ist, nicht nur zu schreien, sondern auch zu horchen, der vernimmt die Antwort"."Annehmen" ist höchste Achtsamkeit und heißt, dem Unglück ins Gesicht zu sehen, ohne sich abzuwenden, ohne den schützenden Schleier der Lüge. "Am Ende von Hiobs dunkler Nacht, die er ohne Trost durchschritten hat, offenbart sich ihm die Schönheit der Welt".
Nelly Sachs hat sich zögerlich dem Hiob-Mythos genähert. 1947 stellte sie ihrem Gedichtband "In den Wohnungen des Todes" (in dem die Schornsteine der KZs zu "Freiheitswege für Hiobs Staub" wurden) ein Hiob-Zitat voran: "Und wenn diese meine Haut zerschlagen sein wird, so werde ich ohne mein Fleisch Gott schauen" (Kap. 19, 26). Im Band "Sternverdunklung" von 1949 erschien dann das erste Gedicht mit Hiob im Titel: Es beginnt mit dem universalistischen "O Du Windrose der Qualen" und thematisiert Blindheit und Sprachlosigkeit?: "Deine Augen sind tief in den Schädel gesunken / wie Höhlentauben in der Nacht / die der Jäger blind herausholt / Deine Stimme ist stumm geworden".. Es ist dieselbe Gottesverrätselung, Gottesangst nund Gottesabwesenheit, die schon das biblische Buch Hiob auszeichnet. Diese mystische Verrätselung findet sich in dem Gedicht "Landschaft aus Schreien" von 1957 mit der Metapher vom
"Gott-Trocknen" ins Drastische gesteigert: "O du blutendes Auge / in der zerfetzten Sonnenfinsternis / zum Gott-Trocknen aufgehängt / im Weltall -". "Erschrieene Transzendenz" nannte Karl-Josef Kuschel in seiner Studie "Hiob und Jesus. Die Gedichte der Nelly Sachs als theologische Herausforderung" diese Zeilen.
Das Orgelkonzert HIOB ist in seinen fünf Sätzen von solchen Gedankengängen inspiriert:
Satz 1 PROLOG beschwört den Frieden der Sorglosigkeit, Satz 2 ZERSTÜCKUNG zeigt den Weg Hiobs in Unglück und Verzweiflung, Satz 3 STERNVERDUNKLUNG führt in Einsamkeit und Stille, der sich dann Satz 4 LANDSCHAFT AUS SCHREIEN als ein ohnmächtiges Aufbäumen entgegenstellt. Satz 5 beschwört das kindlich- märchenhafte gute Ende? des Buches Hiob, das nun möglich gewordene Erkennen der Schönheit der Welt, - Hiobs zweite Tochter Kezia "die Zimtblüte" soll hier die Metapher sein.

Widmung: Johannes Skudlik zu seinem 50. Geburtstag 2007

Uraufführung:  05.09.2008, Bochum, Auditorium Maximum der Ruhruniversität

Uraufführung Interpreten: Im Rahmen der Bochumer Orgeltage 2007 mit Johannes Skudlik (Orgel) Bochumer Symphoniker, Ltg.: Arno Hartmann. Am 30.5.2011 in der Philharmonie München fand die Uraufführung der Version mit Chor statt: es sang der Münchener BachChor, Johannes Skudlik/Orgel und Münchner Symphoniker, Ltg.: Hansjörg Albrecht. Dieses Konzert wurde von BR Klassik des Bayerischen Rundfunks mitgeschnitten und dokumentiert

Uraufführung Presseberichte: WAZ Westdeutsche Allgemeine vom 26.5.2007
'Die Komposition überzeugte durch handwerklich perfekte Dramaturgie und surreale Klangsprache, die jene alttestamentarische Verzweiflung sporadisch durchaus spürbar macht' (Tom Thelen)

Im Herbstheft von 'Musik und Kirche' sowie von 'Forum der Kirchenmusik':

Dämonisierung und bukolische Landschaften
Enjott Schneiders Orgelkonzert ?Hiob? in Bochum

Zum Abschluss der 27. Bochumer Orgeltage wurde am 20. Mai Enjott Schneiders halbstündiges Konzert Hiob für Orgel und Orchester uraufgeführt. Unter der Leitung von KMD Arno Hartmann sangen und spielten im Auditorium Maximum der Ruhr-Universität die Stadtkantorei Bochum, die Bochumer Symphoniker und Johannes Skudlik an der Orgel.
Beim vorausgegangenen ?Tischgespräch? stellte Enjott Schneider (der mit einfühlsamen Filmmusiken zu Filmen wie ?Schlafes Bruder? bekannt wurde) sein Werk vor, gab bereitwillig Einblick in die Werkstatt eines modernen Komponisten und äußerte sich bekenntnishaft über seinen ganz persönlichen Zugang zu der ewig aktuellen Thematik des biblischen Buchs. Besonders die Auseinandersetzung der französischen Philosophin Simone Weil und der deutschen Lyrikerin Nelly Sachs mit der Hiob-Figur seien für ihn prägend gewesen.
Enjott Schneider hat wie der Dichter des Hiob-Buches in den narrativen Rahmen (Hiob, Kap. 1 und 42) den dramatischen Dialogteil eingefügt, der bis zur Dämonisierung des Gottesbildes führt. Dabei haben die Titel und Zitate der fünf Sätze die Aufgabe, die gewünschten Vorstellungsräume für Hiobs Lage zu öffnen und das Hörverstehen in seinem Sinne zu lenken. Da Programmmusik mit dem Mittel der Transkription außermusikalischer Inhalte in Musik arbeitet, wird die Kenntnis der Vorlagen vorausgesetzt.
Insgesamt konnte die Komposition überzeugen, wo sie die Atmosphäre tiefster Verzweiflung musikalisch nachvollziehbar zu gestalten vermochte (z. B. die Verdunklung des Gottesbildes im III. Satz und die geradezu erschütternde und aufschreckende lautmalerische Abbildung der Verzweiflungsschreie im IV. Satz). Auch durch die Kontrastierung eines bukolisch-idyllischen Landschaftsbildes im I. Satz, in dem sich bereits das Bedrohliche ankündigt, mit der im II. Satz erschütternden musikalischen Vermittlung der Dämonisierung des Gottesbildes ist der biblischen Vorlage durchaus angemessen musikalisch umgesetzt. Im V. Satz schließlich gelingt
Schneider mit einer geradezu surrealen Klangsprache die erlösende Evokation einer überirdisch schönen Landschaft mit Flöten und melodiösem Hörnerklang, einschmeichelnden Kantilenen, der Nachahmung von Vogelgezwitscher in einem ruhigen Dahinfließen von Orgel und Orchester. Entstanden ist so nicht nur eine überzeugende, handwerklich perfekt gestaltete Dramaturgie, sondern auch eine angemessene, von einem tiefen Verständnis des Hiob-Buches getragene Umsetzung des Stoffes in eine aufwühlende Musik.
Friedhelm Wippich